Wie kann Yoga Kinder und Jugendliche mit Hochsensibilität stärken?
`Die wichtigste Lebensaufgabe des Menschen besteht darin, seinem eigenen Wesen zum Durchbruch zu verhelfen´, postulierte Erich Fromm. Doch warum ist es insbesondere für hochsensible Menschen nicht einfach, ihrem Wesenskern im Leben Ausdruck zu verleihen und wie kann Yoga helfen, Kinder und Jugendliche auf diesem Weg zu unterstützen?
Laut Statistik sind ca. 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel, Tendenz steigend.
Die US-amerikanische Psychologin und Psychotherapeutin Elaine Aron begann 1996 auf Grund ihrer eigenen Veranlagung über Hochsensibilität zu forschen.
Sie schreibt darüber in ihrem Buch `The highly sensitive Person´, auf Deutsch unter dem Titel `Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindlichkeit erkennen, verstehen und nutzen´.
Darin eklärt sie: `Hochsensible Individuen haben die angeborene Neigung, ihre Umgebung deutlicher wahrzunehmen und gründlich nachzudenken, bevor sie handeln. [...] Hochsensible Personen fühlen sich häufig überwältigt, sei es von einem starken Geräuschpegel oder einem Übermaß an anderen äußeren Reizen, die auf sie einströmen´.
Aron nennt vier Hauptmerkmale der Hochsensibilität:
1. gründliche Verarbeitung von Informationen
2. Übererregbarkeit
3. Emotionalität und
4. Sensorische Empfindsamkeit
Hochsensible Kinder und Jugendliche haben in Ihrem Alltag die Herausforderung aufgrund eines fehlenden Filters, die Fülle an Reizen, die jeden Tag aufs Neue auf sie einströmen zu verarbeiten. Eine Selektion der Reize findet nicht statt, so dass rasch eine Überforderung eintreten kann. Sie fühlen sich erschöpft, überlastet, gestresst und sind dadurch weinerlich, hibbelig oder auch reizbar.
Dies fällt der Umwelt dann negativ und z.B. in der Schule als störend auf und die Kinder und Jugendlichen werden als problematisch empfunden, da die Ursache möglicherweise nicht erkannt oder berücksichtigt wird.
Dieses Missverständnis kann einerseits zur Stigmatisierung wie `Du bist aber empfindlich. Stell dich nicht so an´ führen oder aber die hochsensiblen Kinder und Jugendlichen sind motorisch unruhig und es wird fälschlicherweise z.B. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) diagnostiziert.
Einige Kinder und Jugendliche reagieren daraufhin mit Überanpassung: Sie versuchen, ihre Empfindungen für sich zu behalten und sich dem Umfeld unterzuordnen, statt ihrem eigenen Wesen entsprechend zu fühlen, zu handeln und zu leben.
Beides ist mit viel Kraft und Leid für die Betroffenen verbunden und kann in psychische Erkrankungen münden, da inneres Erleben und äußere Umweltreaktionen nicht miteinander vereinbart und erfolgreich bewältigt werden können.
Noch nicht genau geklärt sind die Ursachen der Hochsensibilität. Bisher wird vor allem eine genetische Veranlagung angenommen. Auch Umwelteinflüsse sollen eine Rolle bei der Ausprägung der Eigenschaft spielen.
Wie kann Yoga die Kinder und Jugendlichen mit der Veranlagung der Hochsensibilität unterstützen auf ihrem Weg den eigenen Wesenskern auszubilden und seelisch und körperlich gesund zu bleiben?
Yoga lässt Raum für die Wahrnehmung und Einbindung der Stärken der Kinder und Jugendlichen in die Gruppen- oder Einzelstunde und unterstützt sie in Ihrem Einzigartig-Sein.
Hochsensible sind häufig besonders empathisch, da sie eine feine Wahrnehmung für Situationen und Zwischenmenschliches haben. Sie sind intuitiv, haben den Wunsch nach Sinnhaftigkeit, sind tiefgründig und kreativ. Sie haben einen Sinn für Ästhetik, Harmonie, Malerei und Musik.
Genau diese Aspekte finden im Yoga Berücksichtigung.
Im Yoga werden die Kinder und Jugendliche zur Wahrnehmung eigener Empfindungen aufgefordert. Es wird das Miteinander in der Gruppe ebenso wie das Zurückziehen der Sinne geübt.
Die Yogaphilosophie gibt Anregungen für Sinnhaftigkeit, friedliche Zwischenmenschlichkeit und Umgang mit verschiedensten Schwierigkeiten und Gefühlen im Leben. Darüber kommen die Kinder und Jugendlichen am Beispiel ihrer eigenen Erlebenswelt ins Gespräch mit der Yogalehrerin bzw. -therapeutin.
Im Yoga für Kinder und Jugendliche wird gesungen, gemalt, getobt. geschwiegen, entspannt und in der Meditation das Zurückziehen der Sinne geübt.
Der Yoga-Raum ist von der Leitung atmosphärisch achtsam und zum Wohlfühlen eingerichtet.
Es gibt in der Yoga Stunde Regeln wie Rücksichtnahme, Respekt, Ordnung im Raum und Stille während der Entspannungsphasen. Diese vielen verschiedenen Aspekte entsprechen den hochsensiblen Kindern und Jugendlichen und nähren sie ganzheitlich.
Wenn die Welt im Außen als überfordernd empfunden wird, hilft Yoga nicht nur hochsensiblen den Kindern und Jugendlichen sich selber energetisch und mental, aber auch körperlich zu stärken und auszugleichen.
Yoga vermittelt auch über die Asanas Qualitäten wie:
- geerdet und kraftvoll sein (Standstellungen)
- sein Gleichgewicht finden (Balanceübungen)
- sich abgrenzen können (Yoga Mudras wie Balasana)
- sich wahrnehmen können (Body Scan und länger gehaltene Yin Yoga Übungen)
- loslassen können (Vorbeugen)
- sich selber wertschätzen (eigene Grenzen spüren und anerkennen in den Asanas)
- seine eigene Mitte stärken (z.B. Drehbewegungen)
- Grenzen setzen (liebevoll mit sich in den Asanas umgehen, sich nicht überfordern und anderen ein `Stopp´ signalisieren, wenn es zu nah und zu laut wird)
- andere akzeptieren in ihrer Andersartigkeit (nicht nach rechts und links schielen, Rücksichtnahme im Unterricht)
Darüber hinaus hilft Yoga aus der Überforderung herauszufinden mittels des Erlernens und Praktizierens von yogischen Atemübungen, Meditation und dem Wechsel von An- und Entspannung.
Die Verarbeitung der Menge an wahrgenommenen Informationen, wie z.B. Stimmungen von Mitmenschen, Geräuschen und Gerüchen wird in der Stille und im Rückzug möglich. Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich im Idealfall nach der Stunde aufgeräumter und wieder in ihrer Mitte.
Regelmäßig praktiziertes Yoga, auch kurzer Sequenzen im Alltag, helfen den Kindern und Jugendlichen bevor eine Überforderung entsteht für sich selbstwirksam und in jeder Lebenssituation Sorge zu tragen und machen sie dadurch stark und autonom.
Das Nervensystem lernt sich besser zu regulieren. Der bedingt der Reizfilterschwäche überaktivierte Sympathikus Hochsensibler fährt durch Anregung des Parasympathikus, der für Regeneration und Entspannung im Vegetativen Nervensystem sorgt, leichter herunter.
Mit regelmäßiger Yogapraxis können hochsensible Kinder und Jugendliche ihren Wesenskern leben, ohne sich von Umweltreizen überfordert zu fühlen, ständig als Querulanten und störend zu gelten und sich auf ihre Stärken konzentrieren.
`Wenn du die Berührung mit der inneren Stille verlierst, verlierst du den Kontakt mit dir selbst. Wenn du den Kontakt mit dir selbst verlierst, verlierst du dich in der Welt. ´
Eckhart Tolle